Herr und Frau Thiede
Selbst habe ich Herrn und Frau Thiede nie zu Gesicht bekommen. Beim Kauf unseres kleinen Häuschens war er bereits verstorben und sie auf ihrem Weg in eine Pflegeeinrichtung.
Aus Erzählungen weiß ich, dass beide kurz geratene Menschen waren, sie unter 1.50 Meter, er kaum darüber. Das bestätigt sich in vielen Räumen des Hauses, angefangen in der Küche, wo sich die Arbeitsplatte der Hausfrau auf Kniehöhe meines Mannes befand, und weiter über die ganze obere Etage, in welcher er den Kopf einziehen muss, weil die Raumhöhe bei gerade einmal 1.90 Meter liegt.
Ömchen Suhl, die ich an anderer Stelle bereits vorgestellt habe, gehörte im weiteren Sinne für eine Weile ihres Lebens mit zum Hausstand im Wolfsnest. Bei einem unserer Spaziergänge erzählte sie mir von der Zeit, da sie und vier weitere Menschen unter unserem Dach gelebt hätten. Sie erzählte von ihrer Heimat, weit im Osten. Vom langen Flüchtlingszug, den schwierigen Anfängen in Schleswig-Holstein und der Dankbarkeit, diesen Krieg überlebt haben zu dürfen. Der „alte Thiede“ sei ihr Schwager gewesen, berichtete sie, und man habe sich halt zusammenraufen und miteinander auskommen müssen. „Nützt ja nüscht.“ Diese knappe schleswig-holsteinische Wahrheit, oft zu hören, hatte auch Ömchen Sühl in ihren Wortschatz aufgenommen.
Was bleibt, wenn ein Mensch geht?
Diese Frage hatte ich mir gestellt, als ich von Ömchen Suhls Tod erfuhr und sie stellt sich mir oft, nämlich immer dann, wenn ich an ihrer alten Kate vorbeifahre und sehe, wie sich Land und Haus durch die Hände der neuen Eigentümer verändern.
Was bleibt, wenn ein Mensch geht? – Das ist auch eine Frage unter unserem eigenen Dach. In unserem Haus, dessen Mauern Herr Thiede eigenhändig Stein um Stein errichtete. Tischler sei er gewesen, haben wir gehört. Reich wurde er damit nicht, das ist uns klar bei jedem Raum, den wir betrachten. Alles Verfügbare, Erlangbare und Erschwingliche wurde verbaut. Hölzer in allen erdenklichen Varianten, vermutlich Restposten, die er über seine Arbeit günstig erstehen hatte können. Zeit(un)geistiges wie Resopal, Asbest in der Beeteinfassung, Teppichfließen aller Couleur – Herr Thiede war ein Meister der Improvisation. Beheizt wurde das Wolfsnest, wie unzählige andere Haushalte, über viele Jahrzehnte lediglich in der unteren Etage. Der Ofen machte die Küche zum Dreh- und Angelpunkt familiären Lebens. Irgendwann dann, sehr viel später erst, kamen Heizkörper hinzu, betrieben durch einen Wasserkreislauf, ausgehend vom Ofen. Holz, Holzkohle und Briketts wurden verheizt. Im alten Stall zeugt noch heute uralte Kohlenschütte und die Lagerstelle fürs Heizmaterial davon. Alleine das Haus warm zu halten (das war Frauenarbeit) muss die alte Frau Thiede viele Stunden ihres Tages gekostet haben. In den Sommermonaten dürften die alten Leute sich mit kaltem Wasser gewaschen haben. Bei entsprechender Wärme nämlich zieht der Kamin nicht mehr, das habe ich mehr als einmal ausprobiert, um anschließend hustend in den Garten zu flüchten und abzuwarten, bis die grauen Schwaden aus allen Öffnungen nach draußen gekrochen waren. Dort, wo vermutlich auch recht spät erst Leitungswasser aus einem Hahn floss, befand sich ursprünglich die Wasserpumpe, die den Haushalt mit eiskaltem Wasser der hofeigenen Quelle versorgte. Unter Tannen und Eiben liegt unser artesischer Brunnen, dessen unermüdlich aufsteigendes Nass wir inzwischen für die Pferdetränke und zur Bewässerung des Gartens nutzen.
Das Ehepaar Thiede hat uns einen prächtigen Baumbestand, Zier- und Nutzgarten und viele schöne und teilweise recht originelle Details hinterlassen, denen wir nach und nach erst begegnen.
In der Werkstatt fand sich ein altertümliches Holzbein, eine der ersten Prothesen wohl, über deren Träger wir leider nichts in Erfahrung bringen konnten. Wunderbares Werkzeug, wie dieser Holzhobel oben im Bild, den Herr Thiede für sein Handwerk nutzte.
Im alten Stall entdeckten wir landwirtschaftliches Gerät, wie es zum Torfstechen in der Region benutzt wurde. Wunderschönes und von Hand gearbeitetes Werkzeug, dessen Wert für seine Besitzer sich auch in Form und Verarbeitung ausdrückte. Zwischen Planken unterm Dach verriet sich beim Verlegen der neuen Heizungsrohre Herrn Thiedes Geheimversteck für amouröse Stunden. Erotisches, Anzügliches und Pikantes, das er dort oben wohl vor seiner besseren Hälfte verbarg.
Ein unerwarteter Fund beim Graben im Garten ließ uns bis zur endgültigen Bergung wahlweise Teile des Bernsteinzimmers, die berühmte „Leiche im Keller“ oder aber – und so war es dann auch – eine der unzähligen Umweltsünden erwarten, die man sicherlich schlechten Gewissens aber in Ermangelung neugieriger Nachbarn freien Herzens überall verscharrte. Zum Vorschein kam der Tank eines kleineren Schiffes, in dessen völlig verrostetem Inneren sich Pfützen von Altöl sammelten.
Hufeisen, angebracht an den Giebeln von Haus und Stall, sollten Glück über den Hof bringen. Und weil man offensichtlich auch gerne ein Bierchen trank, fand sich am Türrahmen zur Küche ein fest montierter Flaschenöffner, wie man ihn sonst eher in Kneipen sieht.
Es liegt jede Menge Arbeit vor und schon sehr viel hinter uns. Inzwischen sorgen Gas und ein modernes Heizsystem für warmes Wasser und beheizte Räume. Das Bad hat S. komplett saniert. Und auch die Küche, nach wie vor Herzstück im Wolfsnest, ist nicht mehr wieder zuerkennen. Nach und nach werden die Fenster ersetzt, von denen sich viele nicht öffnen lassen, weil man auch hier sparen hatte müssen. Alte Türen sind verschwunden hinter Mauerwerk, um so aus einer verwinkelten und von vielen Seiten zugänglichen Stube einen gemütlichen Raum geschaffen zu haben.
Im Wolfsnest stehen die Häuser auf Pfählen, damit das Moorland der Statik nichts anhaben kann. Keller ist hier also keiner zu finden. Stattdessen nutzten und nutzen die Menschen Hauswirtschaftsräume, bis unters Dach zweckmäßig gefliest und in unserem Fall selbst für mich zu niedrig.
Viel Zeit, viel Geld, viel Mühe und Arbeit und immer wieder neue Überraschungen – das ist das, was uns das Erbe der Thiedes abverlangt. Kaum ist die Küche fertig, brechen im Obergeschoss Platten durch und stellen einen Freiflug nach unten in Aussicht. Die Elektrik will komplett saniert werden. Und auch das Dach bedarf einer Renovierung.
Doch: Ein altes Haus wie dieses, es hat eine Geschichte. Es erzählt vom Leben aus einer anderen Zeit. Es ist Zeugnis dessen, wie man vor mehr als 80 Jahren gelebt und gewohnt hat. Und es hat Charme. Keine Wand ist gerade. Die Treppen knarren und knarzen. Es zieht durch viele Fugen und Ritzen. Es ist nicht perfekt. Ganz so, wie wir das auch nicht sind.
Jedes Mal aufs Neue schön – die Freude darauf, wieder ein Stück voranzukommen. Und Glück zu empfinden, bei jedem noch so kleinen Fortschritt.
Und das kleine Haus verlangt schweigend, ihm von alledem etwas zu belassen. Und damit von dem, was bleibt, wenn ein Mensch geht.