Ich bin wieder einmal dem Kind in mir begegnet.
Ich bin wieder einmal dem Kind in mir begegnet.

Ich bin wieder einmal dem Kind in mir begegnet.

Zwischen zuhause und daheim liegen fast 800 Kilometer

Von der A23 auf die A7, von dort auf die A3, auf die A81 und schließlich auf die A8, von Schleswig-Holstein, über Hamburg, Niedersachsen, Hessen, Bayern nach Baden-Württemberg – ganze 760 Kilometer Fahrtstrecke liegen zwischen meinem Zuhause und meiner Heimat, zwischen mir und meiner Familie, zwischen Ecklak und Hochdorf. Am Sonntag vor Ostern bin ich diese ewig lange Strecke wieder einmal gefahren, um nach etwas mehr als 8 Stunden und zwei kleineren Staus dort anzukommen, wo ich aufgewachsen bin und meine Kindheit verbracht habe.
Das war eine schöne Kindheit auf dem Land. Unser Kinderzimmer war riesig und unter freiem Himmel. Wann immer es Schularbeiten und das Wetter erlaubten, waren wir draußen, liefen Rollschuh, waren wir mit dem Rad unterwegs, waren wir Farmer, Gärtner, Cowboys oder Indianer, bauten wir Baumhäuser, hausten wir in Höhlen oder Wigwams, die wir uns selbst im nahen Wald mit Fichtenstämmen und jeder Menge Moos gebaut hatten.

Zwischen Hamburg und Stuttgart bleibt viel Zeit, über das Heute und das Gestern nachzudenken.

Alles fließt …

Der kleine Bach im Dorf war unsere Lebensader. Wir fanden Fische, Muscheln, Schnecken und Krebse, wateten durch flaches Wasser und durch Untiefen. Ließen unsere Hunde darin spielen, plantschten auf dem Pferderücken hindurch, bauten Dämme wie die Biber, ließen Steine fliegen und übers Wasser springen, aßen Löwenzahn und Bärlauch, Fallobst und Beeren, pflückten Schlüsselblumen, Maiglöckchen, Margeriten und Herbstzeitlose, verkauften und verschenkten kleine Blumenbouquets, liehen uns bei der Nachbarsfrau den Leiterwagen und wanderten damit aus in ein anderes und unbekanntes Land. Wir waren Siedler, Pioniere und allein auf dieser Welt, lebten unsere Abenteuer und genossen diese Form von Freiheit sehr.

Forellen, kleine Fische in Regenbogenfarben, Wasserschnecken und Krebse – unser „Katzenbach“ war ein vielfältiges Ökosystem.

Auf den Wegen von früher

An all das hab ich mich erinnert, als ich in der vergangenen Woche mit meiner Schwester Silke all die Wege ging, die wir schon als Kinder liefen und von denen ich jedes Stückchen kenne, wie die berühmte Westentasche, die man verinnerlicht hat. Noch immer wachsen die schönsten Schlüsselblumen an denselben Stellen, wie vor 45 Jahren schon. Und es ist es ein schönes Gefühl, manches Fleckchen fast unberührt zu wissen, auch wenn das Dörfchen selbst mit der Zeit gegangen und ziemlich aus den alten Nähten gewachsen ist.

Seit bald 20 Jahren unter Normalnull daheim, fiel mir diesmal jede kleine Steigung auf und was früher ein Hügel war, fühlt sich inzwischen an wie ein Berg. Gefehlt hat mir der norddeutsche Wind und wenn ich dort oben durch die Natur laufe, vermisse ich Bäche und die weite Sicht über Täler und Wälder hinweg, wie es sie in Baden-Württemberg gibt.

Bergauf gehts im Norden nur über die Treppe nach oben. Oder hoch auf den Deich. Ganz anders daheim, wo es sanfthügelig zugeht und unser Dorf auf 292 Höhenmetern liegt, während ich inzwischen dort zuhause bin, so man die tiefste Landstelle der Republik findet. Hier lebt man unterhalb des Meeresspiegels und vor Überflutung geschützt von den Deichen.

Sehnsuchtsort Marbach

Begonnen haben wir unsere Ausflugswoche dort, wo mein Sehnsuchtsort ist. Oder besser: wo er bislang war. In Marbach bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb, bei den Pferden im Haupt- und Landgestüt Marbach. Jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern bin, ist ein Besuch dort oben ein Muss. Unvergessen bleiben die vielen Ausflüge zu den schönen arabischen Pferden, als wir Kinder waren, das weite Gelände, die alten Bäume, die riesigen Weiden und die Stutenherden mit ihren Fohlen. Über so lange Zeit fast unberührt, hat sich das Haupt- und Landgestüt zwischenzeitlich doch sehr verändert. Die Anlage wirkt clean, man spürt – anders als früher – die Ausrichtung am Pferdemarkt bzw. dass es sich um einen Wirtschaftsbetrieb handelt und nicht um ein Refugium für Menschen wie mich, die hier in Erinnerungen schwelgen und das Anachronistische feiern mögen. Etliche Ställe sind für BesucherInnen nicht mehr zugänglich, aus hygienischen und anderen Gründen. Der alte Gestütsgasthof „Gullewitsch“ fehlt und mit ihm ein Besuch im Museum und ein – nach einem langen Ausflug – letzter Gang zu den wunderschönen Schwarzwälder Füchsen im Stall. Vielleicht aber habe auch einfach ich mich verändert und blicke heute anders auf das, was mir vier Jahrzehnte lang Zuflucht aus dem Alltag war? Was auch erklären würde, warum es so lange brauchte, bis ich nach Grafeneck „fand“ und begriffen habe, welche Ungeheuerlichkeit dort und in Rufweite zu „meinen Pferden“ vor 80 Jahren stattgefunden hat.

Marbach. Wie vor hundert Jahren. Und doch auch wieder nicht. Vermutlich bin ich der Erinnerung entwachsen? Oder diese mir?

Unwertes Leben

Sie haben einen wunderbaren Ausblick genoßen, weit über die Schwäbische Alb hinweg, die mörderischen Nationalsozialisten, die dort oben Menschen getötet haben, weil sie „unwert“ waren. Es war ein ungemein berührender Moment, als meine Schwester und ich dort oben standen, wo die Gedenkstätte Grafeneck das Unbegreifliche fassbar zu machen versucht. Der Blick. Die Stille. Und das Wissen um dies himmelschreiende Unrecht waren ein harter, schmerzlicher Kontrast zu den Bildern bei den Pferden. Und doch gehören sie zusammen, haben dort oben die Gestütspferde gegrast, während gegenüber Menschen gequält und ermordet wurden und der Rauch aus den Verbrennungsöfen aufgestiegen sein muss. Doch dazu in Kürze mehr und an anderer Stelle.

Dort oben, in dieser schwäbischen Idylle in Grafeneck, wurden zwischen Januar und Dezember 1940 von den Nationalsozialisten 10.654 Menschen ermordet. Sie sind die Opfer von T4, dem unbegreiflichen Euthanasie-Programm der nationalsozialistischen Herrschaft. Schräg gegenüber grasen seit 500 Jahren edle Pferde. Dort wie überall im Deutschen Reich will man nichts gewusst haben. Nichts von den Morden, nichts vom Rauch, der über die Täler zog, nichts von den Toten. Dazu mehr in einem gesonderten Text.

Potemkinsches Dorf

Mit diesen so sehr gegensätzlichen Eindrücken haben wir die Lauterquelle in Gomadingen besucht. Die Rückfahrt führte durch Metzingen, wo ich zum letzten Mal vor über 30 Jahren war, um mit meinem damaligen Freund einen Anzug bei Boss zu kaufen. Auch dieser Kontrast ist groß: Eben noch fährt man durch die urwüchsige Landschaft, um im nächsten Augenblick in dieses Kommerz-Mekka einzutauchen, in dem – wie in einem Potemkinschen Dorf – die glänzenden Fassaden einen Eindruck von Protz und Pomp erwecken. So viele Menschen, so viele Tüten, so viele Labels – ernsthaft: Wer braucht all das Zeugs, das man teuer bezahlt, um mit ihm Werbung zu machen für andere, die das Zeugs teuer bezahlen?

Metzingen – ein Mekka für Modefans, für Menschen, die Labels mögen und ihr Glück in Tüten voller Markenkleidung finden.

Hinfallen, Krönchen richten und wieder aufsteigen

Für den Rest dieser schönen vorösterlichen Woche waren wir überall dort, wo uns hinter jeder Kurve und jedem Gebüsch die Geschichten von früher anspringen. Spazieren durch eine Landschaft, mit der ich verwachsen bin und die für immer ein Teil von mir sein wird. Kaum ein Fleckchen Erde, das ich nicht von meinen vielen Spaziergängen mit und ohne Hunde oder von meinen unzähligen Ausritten kenne, einschließlich der schönen Ölmühle, wo wir unsere ersten Reitversuche unternommen haben und der Name „Mäxle“ für den unbändigen Willen steht, wenn man von oben runterfällt, das viel zitierte Krönchen zu richten und wieder aufzusteigen, auf dass es irgendwann gelingen mag, den Tücken eines gewieften kleinen Ponys zu entkommen.

Bei schönem Wetter ging es durch und über Bäche, schmale Waldpfade entlang, an Bärlauch, Schlüsselblumen und Wiesenschaumkraut vorbei und im Gespräch einmal quer durch unsere Kindertage. Und ich hab es mir nicht nehmen lassen, in guter alter Tradition im Wald ein kleines Sträusslein für meine Mama zu zupfen, das seinen Platz auf dem Ostertisch fand.

Ich habe eine wunderschöne Woche bei und mit meiner lieben Familie verbracht und bin wieder einmal dem Kind in mir begegnet. Der Heike, die es geliebt hat, mit dem Hund durch die Wälder zu streifen, auf dem Pferderücken die Landschaft zu erkunden und mit ihrer Schwester und den Kindern aus der Nachbarschaft ihre Kindheit auf dem Land zu genießen. Ich bin dankbar für die Freiheit, die wir leben und für den Freiraum, in dem wir uns bewegen durften. Und ich habe mit Freude gesehen, dass im Viertel, in dem meine Eltern seit bald 50 Jahren leben, eine neue Generation Kinder heranwachsen darf. Ein Waldkindergarten, wie es ihn dort inzwischen gibt, hätte mir als Kind auch sehr gefallen.

Hereinspaziert ins Württembergische

3 Kommentare

  1. jameel juratly

    Es ist wirklich erstaunlich, wie viel Entfernung zwischen daheim und Zuhause liegen kann. Aber ich denke, dass diese lange Fahrt es umso schöner macht, wenn wir endlich wieder an dem Ort ankommen, an dem wir aufgewachsen sind und unsere Wurzeln haben. Es klingt, als hättest du eine wundervolle Kindheit gehabt, umgeben von Natur und Freiheit. Es ist immer schön, sich an diese Momente zu erinnern und sie mit der Familie zu teilen, die sie miterlebt hat. Auch wenn wir nun als Erwachsene in der Ferne leben, bleiben diese Erinnerungen und die Liebe zur Heimat tief in uns verwurzelt.

    1. Heike Pohl

      Lieber Jameel, du und deine Familie habt noch einmal auf eine ganz andere Art erfahren was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen. Es ist doch ein wesentlicher Unterschied, ob man freiwillig geht oder ob man gehen muss, denke ich. Aber die Möglichkeit des Erinnerns teilen wir, das finde ich schön und verbindend. Erinnerung kann eben auch ein schöner Ort sein, oft schöner als das, was wir zurückgelassen haben.
      Ich war mit meiner Familie viele Jahre lang in Kroatien im Urlaub. Sie gehen dort heute noch hin und für mich ist dieser Ort eine Vorstellung vom Gestern, die ich nicht zerstören mag. Ich möchte nicht wieder dorthin, weil ich dieses kleine Fischerdorf und den Campingplatz, auf dem wir waren, gerne so erinnern möchte, wie ich das zuletzt mit 17 Jahren gesehen habe.
      Ich danke dir sehr für deinen Kommentar. 🙂

  2. Liebe Heike, danke für den Rückblick – ich kann es gut nachfühlen, denke in letzter Zeit selbst öfter zurück. Das ist ganz normal, denn ich bin schließlich älter und habe leider meine Eltern nicht mehr. Inzwischen leben dort andere Menschen…aber es war auch eine wunderschöne Kindheit im damals dörflichen Grüngürtel Dortmunds. Heute kenne ich mich gar nicht mehr aus. Wo früher Wiesen und Wälder waren, stehen heute Haus an Haus wie an einer Perlenkette.
    Ich freue mich für Dich, Deine Familie ist noch da und in Begleitung der Schwester macht das nochmal so viel Freude. Liebe Grüße und eine schöne Woche!!

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